Regeln für gutes Design?

Vom Kleinen

zum Grossen

Können Architekten von Designern lernen? Meist war es ja umgekehrt. Die Postmoderne sprach gar von Mikroarchitekturen im Design. Der Industriedesigner Dieter Rams hat jedoch zehn Thesen für ein gutes Design aufgestellt, die für Architekten durchaus bedenkenswert sind.

Die Architekturgeschichte ist voll von Regeln, Thesen und Theorien zu einer guten Architektur. Am bekanntesten sind sicher die ältesten des römischen Architekten und Autors der „Zehn Bücher über Architektur“, erschienen etwa 20 v. Chr. Die Vitruv’schen Kategorien firmitas (Festigkeit), utilitas (Nützlichkeit) und venustas (Schönheit) haben bis heute ihre Gültigkeit nicht verloren und sind auch in den zehn Thesen des deutschen Industriedesigners Dieter Rams enthalten, um die es hier geht. Dazu sei der Autor dieser Thesen zunächst etwas vorgestellt.

Dieter Rams

Rams, 1932 in Wiesbaden geboren, ist vor allem als Chefdesigner des Elektrogeräteherstellers Braun bekannt geworden. 1955 löste er eine Art Designrevolution aus, als er weisse, funktionsorientierte, klar gestaltete Radiogeräte auf den Markt brachte, die die polierten Holzchassis mit Goldleiste hinter sich liessen. Zunächst war dabei noch die legendäre HfG Ulm involviert und das bekannteste Produkt der Frühzeit war die Radio Phono-Kombination SK 4 mit transparentem Deckel aus Acrylglas, die alsbald als „Schneewittchensarg“ in die Designgeschichte einging. Ihre Väter Dieter Rams und Hans Gugelot waren allerdings beide keine Industriedesigner, sondern Architekten. Dieter Rams hatte an der Wiesbadener Werkkunstschule Architektur und Innenarchitektur studiert und zunächst im Büro von Otto Apel in Frankfurt an den US-Generalkonsulaten mitgearbeitet. Hier lernte er auch Skidmore, Owings and Merrill aus Chicago kennen, die ihn nicht wenig beeindruckten. Mehr aus Zufall kam er als Architekt zu Braun und dann nach kurzer Zeit zum
Industriedesign, weil man erkannt hatte, dass nur eine hausinterne Designabteilung dazu in der Lage war, in enger Abstimmung mit der Technik wirklich Neues hervorzubringen.

Entworfen hat Dieter Rams immer mit einem 6 B Stift an der Architektenrolle und das zumeist rechtwinklig und mit präzise gestalteten Details. Er gilt heute als einer der weltweit prägenden Industriedesigner des 20. Jahrhunderts, auf den sich nicht zuletzt Jony Ive von Apple bezogen hat. Der Gestalter Rams hat über 350 Produkte für Braun, den Möbelhersteller Vitsoe sowie einige andere Unternehmen entworfen, die alle eine gemeinsame und stringente Designsprache ausweisen, aber alles andere als einen schematischen Stil bilden.

Zehn Thesen über gutes Produktdesign

Seine zehn Thesen zu einem guten Produktdesign (wohlgemerkt Thesen und keine Regeln!) hat Rams sukzessive zwischen 1975 und 1985 formuliert und immer darauf bestanden, dass sie nicht in Stein gemeisselt seien, sondern von jüngeren Generationen weitergedacht werden sollten. Der Anlass war dabei zunächst, innerhalb des Unternehmens Grundsätze zu definieren, um die Gestaltungshaltung in die richtige Richtung weiterzuentwickeln. Durch seine vielen Vorträge, die zumeist mit den zehn Thesen endeten, erhielten sie nicht nur eine Popularität in Designerkreisen, sondern auch in der öffentlichen Diskussion über die Dinge um uns herum. Bemerkenswert ist dabei, dass er schon in den 1980er-Jahren vor allem auf Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit pochte. Sein immer wieder vorgetragenes Mantra heisst bis heute „Weniger, aber besser“. Das reflektiert einerseits auf das „Less is more“, das eigentlich auf Peter Behrens zurückzuführen ist, vor allem aber von Ludwig Mies van der Rohe in den USA propagiert wurde. Andererseits auf das „Less is a bore“ der Postmoderne, dessen Kurzlebigkeit ihm heute unter Umweltaspekten nicht mehr verantwortbar erscheint.

Produkte von Braun hatten und haben dagegen zumeist einen sehr langen Produktzyklus und sind reparaturfähig. Die immer noch erhältliche Zitruspresse MPZ 2 feiert 2022 sogar ihren 50. Geburtstag und ist nach wie vor gestalterisch unverändert. Rams Plädoyer ist aber mehr als Kritik an einer „Ex und Hopp Mentalität“ des Wegwerfkonsums. Das ist sie zwar auch, aber vor allem ging und geht es Dieter Rams um eine höhere Produktqualität, die letztlich nicht nur langlebiger ist, sondern auch bereichernder. Das beinhaltet durchaus auch einen emotionalen Zugang. Seine Gestaltungen sind nicht kalt und abweisend, sondern sie haben ihre ganz eigene Faszination, überzeugende Proportionen, Formerfindungen, genuine Detaillösungen und ein subtiles Farbenspiel. Nicht von ungefähr gibt es so viele Sammler von Braun Produkten, wie von keinem anderen Industrieunternehmen – von Auto-Oldtimern einmal abgesehen.
INFO
Prof. Dr. Klaus Klemp, geb. 1954 in Dortmund, war bis 2020 Professor für Designgeschichte und Designtheorie an der Hochschule für Gestaltung Offenbach a.M. und Kurator für Design am Museum Angewandte Kunst, Frankfurt a.M.; bis heute ist er Direktor des Institute for Design Exchange (IDEe) an der HfG Offenbach, Vorstandsmitglied der Dieter und Ingeborg Rams Stiftung, im Beirat der Gesellschaft für Designgeschichte und Vorsitzender der Ernst-May-Gesellschaft, Frankfurt a.M.; zahlreiche Ausstellungen und Veröffentlichungen zu Architektur, Kunst und Design.

Designthesen als Architekturthesen?

Inwieweit lassen sich nun die zehn Thesen von Dieter Rams auf die Architektur übertragen – ich meine 1:1? Gute Architektur sollte sicher auch innovativ sein, neue Möglichkeiten aufzeigen und neueste Technik mitdenken. Brauchbar sollte sie selbstverständlich auch sein, das forderte schon Vitruv mit seiner „utilitas“. Schönheit hat durchaus auch etwas mit der Brauchbarkeit zu tun, mit der Identifikation, dem emotionalen und kognitiven Zugang und nicht zuletzt mit der langlebigen Akzeptanz. Und auch Architektur sollte sich selbst erklären und nicht zum Irrgarten werden. Klare Anzeichenfunktionen, die Bedienungsanleitungen weitgehend überflüssig machen, waren immer eine besondere Stärke von Braun. Ehrlichkeit? Darüber haben schon ganze Heere an Architekturtheoretikern gesprochen, von der Forderung nach Materialehrlichkeit Sempers im 19. Jahrhundert bis zur Ehrlichkeit der Fassade, die nicht mehr verspricht als im Inneren dann eingelöst wird. Unaufdringlichkeit ist eine Herausforderung, wenn sie nicht zur Monotonie führt. Da war die sogenannte Klassische Moderne sicher sprachbegabter als die seelenlose Nachkriegsmoderne. Und das war das Pro der postmodernen Architektur, wieder Formen für verschiedene Bautypen zu finden, die sich unterscheiden, die eine Stadt lesbar machen. Erinnert sei an Venturis „Ente“, auch wenn man da oft über das Ziel hinausgeschossen ist.
Langlebigkeit, nicht nur im Sinne von Festigkeit, sondern auch von visueller Erträglichkeit, ist sicher eine der wichtigsten Thesen von Dieter Rams. Es ist mehr als fraglich, ob Bürobauten nach 30 Jahren wieder abgerissen werden müssen, um neue modische Bauten zu errichten, die auch nicht viel länger halten. Langlebigkeit von Produkten und von Architekturen ist unter Umwelt- und Ressourcenaspekten die grosse Herausforderung der Gegenwart. Und Details machen nicht nur die Seele von Produkten aus, wie der Industriedesigner Charles Eames einmal sagte, sondern sicher auch von Architekturen. Umweltfreundlichkeit ergibt sich aus dem Gesagten.

Bleibt die letzte These von Dieter Rams: „Gutes Design ist so wenig Design wie möglich. Zurück zum Puren, zum Einfachen“. Die hier geforderte Konzentration auf das Wesentliche muss jeder Architekt und jede Architektin fraglos für sich selbst beantworten. Letztlich ist es die Gretchenfrage jeder Gestaltung.

Dieter Rams liefert in seinen zehn Thesen keine Gebrauchsanweisung. Er stellt eigentlich Fragen, die jeder Gestalter, ob von Dingen oder von Gebäuden, für sich selbst beantworten muss. Ich denke, sie sind aktueller denn je.

10 Regeln für gutes Design nach Rams

Fassung Oktober 1995 (gering verändert und erweitert 2002)

Gutes Design ist innovativ.

Die Möglichkeiten für Innovation sind noch längst nicht ausgeschöpft. Die technologische Entwicklung bietet immer wieder neue Ausgangspunkte für innovative Gestaltungskonzepte, die den Gebrauchswert eines Produkts optimieren. Innovatives Design entsteht aber stets im Zusammenhang mit innovativer Technik und ist niemals Selbstzweck.

Gutes Design macht ein Produkt brauchbar.

Man kauft ein Produkt, um es zu benutzen. Es soll bestimmte Funktionen erfüllen – Primärfunktionen ebenso wie ergänzende psychologische und ästhetische Funktionen. Gutes Design optimiert die Brauchbarkeit und lässt alles unberücksichtigt, was nicht diesem Ziel dient oder gar entgegensteht.

Gutes Design ist ästhetisch.

Die ästhetische Qualität eines Produkts ist integraler Aspekt seiner Brauchbarkeit. Denn Geräte, die man täglich benutzt, prägen das persönliche Umfeld und beeinflussen das Wohlbefinden. Schön sein kann aber nur, was gut gemacht ist.

Gutes Design macht ein Produkt verständlich.

Es verdeutlicht auf einleuchtende Weise die Struktur des Produkts. Mehr noch: Es kann das Produkt zum Sprechen bringen. Im besten Fall erklärt es sich dann selbst.

Gutes Design ist ehrlich.

Es lässt ein Produkt nicht innovativer, leistungsfähiger, wertvoller erscheinen, als es in Wirklichkeit ist. Es versucht nicht, den Verbraucher durch Versprechen zu manipulieren, die es dann nicht halten kann.

Gutes Design ist unaufdringlich.

Produkte, die einen Zweck erfüllen, haben Werkzeugcharakter. Sie sind weder dekorative Objekte noch Kunstwerke. Ihr Design sollte deshalb neutral sein, die Geräte zurücktreten lassen und dem Menschen Raum zur Selbstverwirklichung geben.

Gutes Design ist langlebig.

Es vermeidet modisch zu sein und wirkt deshalb nie antiquiert. Im deutlichen Gegensatz zu kurzlebigem Mode-Design überdauert es auch in der heutigen Wegwerfgesellschaft lange Jahre.

Gutes Design ist konsequent bis ins letzte Detail.

Nichts darf der Willkür oder dem Zufall überlassen werden. Gründlichkeit und Genauigkeit der Gestaltung sind letztlich Ausdruck des Respekts dem Verbraucher gegenüber.

Gutes Design ist umweltfreundlich.

Das Design leistet einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Umwelt. Es bezieht die Schonung der Ressourcen ebenso wie die Minimierung von physischer und visueller
Verschmutzung in die Produktgestaltung ein.

Gutes Design ist so wenig Design wie möglich.

Weniger Design ist mehr, konzentriert es sich doch auf das Wesentliche, statt die Produkte mit Überflüssigem zu befrachten. Zurück zum Puren, zum Einfachen!