Interview: Blind nach ganz oben

Sich in Sicherheit zu glauben,
ist gefährlich

Andreas „Andy“ Holzer bestieg auf allen sieben Kontinenten den jeweils höchsten Berg. Er tourte auf Skiern durch die Antarktis, trotzte Eisstürmen, extremen Windkräften, Temperaturstürzen und steilsten Felswänden. Am 21. Mai 2017 erreichte er schliesslich auch den Gipfel des Mount Everest. Ein Gespräch über Sicherheit, Angst – und wie man als Blinder seine Umgebung „sieht“.

Herr Holzer, um als Alpinist die höchsten Gipfel zu besteigen, braucht es den vollen Einsatz aller Sinne. Wie kommt ein Blinder zum Bergsteigen?

Andy Holzer: Ich bin in den Dolomiten aufgewachsen und bereits ohne Augenlicht zur Welt gekommen. Als Kind habe ich gar nicht gewusst, dass das Bergsteigen ist, was ich da mache. Ich habe nur gespürt, dass es im Steilen leichter ist, sich zu bewegen als in der Ebene. Als Blinder orientierst du dich viel mit den Händen, das ist im aufrechten Gang schwierig. Am Fels hatte ich die Welt plötzlich unter Kontrolle. Und deshalb ist das Bergsteigen bis zum heutigen Tag die sichere Variante für mich.

Sie haben die höchsten Gipfel erklommen: Was bedeutet für Sie der Begriff „Sicherheit“?

Als Bergsteiger, der nicht sehen kann, bedeutet zunächst jeder meiner einzelnen Schritte einen weiteren Schritt in die Ungewissheit. Mit den Jahren habe ich jedoch gelernt, mich mit dieser ständigen Unbekannten zu arrangieren, aus dem allgegenwärtigen Überraschungspotential zu lernen. Das macht für mich letztlich beinahe jede Unsicherheit zur Sicherheit. Unzählige Schritte dieser Art musste ich gehen, um dies für mich erst mal zu erkennen. So etwas muss man richtig trainieren, immer wieder zulassen, um es am Ende für sich positiv nutzen zu können. Niemand ausser mir selbst ist für meine wirkliche Sicherheit, meine echte Sicherheit verantwortlich. Sicherheit ist immer relativ.
Ich habe nur gespürt, dass es im Steilen leichter ist, sich zu bewegen als in der Ebene. Als Blinder orientierst du dich viel mit den Händen, das ist im aufrechten Gang schwierig. Am Fels hatte ich die Welt plötzlich unter Kontrolle.
– Andy Holzer

Wetterumschlag, starker Regen, eisige Stürme, Strapazen in Extremsituationen: Kann man als Alpinist überhaupt „sicher“ sein?

Wer sich als Alpinist sicher fühlt, dem empfehle ich, daheim zu bleiben. Denn wer sich allzu sicher fühlt, macht Fehler, die auf dem Berg tödlich enden können.
Mein spezieller Humor lässt mich meinen Seilpartnern an gruseligen Kletterstellen immer wieder zurufen: „Nur der Furchtlose stürzt ab!“. Bergsteigen bedeutet das Ausloten der Naturkräfte, der persönlichen Einschätzung und der Fähigkeiten des Teams. Bergsteigen ist immer ein Balanceakt. Es geht eigentlich darum, die Tour vorab so realistisch wie möglich durchzuspielen, Gefahren zu erkennen und abzuschätzen und sich bewusst zu sein, dass es immer Unsicherheiten gibt.

Wie bereiten Sie sich für eine Expedition vor? Worauf achten Sie besonders?

Innerhalb der vergangenen 15 Jahre habe ich 21 Expeditionen durchgeführt. Pflicht sind die üblichen Vorbereitungen, wie die exakte Planung der Route, der Ausrüstung, das Zusammenstellen des Teams, die Einteilung der Lebensmittel, die Finanzierung und Logistik oder das Studieren der Wettervorhersage. Für mich persönlich ist es wichtig herauszufinden, ob das Ziel und die Route für einen blinden Menschen wie mich Sinn machen, und ob sich die Route an meine Fähigkeiten anpassen lässt, oder noch besser, ob sich meine Fähigkeiten an die erträumte Route anpassen lassen. Bisher habe ich mit meinem Team auf der für mich idealen Route die höchsten Gipfel jedes Kontinents tatsächlich erreicht.

Als Extrembergsteiger sind Sie auf ein Team angewiesen und müssen einander vertrauen können. Sind es immer dieselben Seilpartner, die Sie begleiten?

Das richtige Team ist der einzig passende Schlüssel für das Erreichen der Ziele. Innerhalb des Teams soll eine „gepflegte Abhängigkeit“ wirken. Immer im Bewusstsein, dass man im Team aufeinander angewiesen ist, aufeinander Rücksicht nimmt und einander hilft. Jedoch bevorzuge ich „offene Systeme“, in denen sich das Team verändert. Es ist für mich nicht wichtig, dass das Team konstant dasselbe ist, auch müssen die Kollegen keine Erfahrung mit einem Blinden haben. Wichtig ist, dass die Leute in einer Seilschaft in höchstem Masse teamfähig sind. 
15
Jahre
21
Expeditionen

Wie erklettern Sie einen Berg? Werden Sie am Seil oder an der Hand geführt, oder klettern Sie sich tastend vor?

Nein, ich benötige dazu keine besondere Führung. Voraussetzung für das Gelingen einer Tour ist eine „dynamische Führung“, das heisst, dass jeder im Team zu jeder Zeit die Fähigkeit haben muss, zu führen, aber auch zurückzustehen, um geführt zu werden. Oder anders gesagt: Ich muss meine Führer führen, damit sie mich führen können. Ich helfe mir durch meine Sinne. Ich höre, fühle und taste mich nach oben. Zudem kann zum Beispiel der Bickel meine taktilen und akustischen Fähigkeiten erweitern und mir sagen, ob der Schnee eisig hart, schmelzend, brüchig oder federleicht und entsprechend trittfest ist.

Sie klettern Touren in den höchsten Schwierigkeitsgraden. Denken Sie, dass Ihre Sinne stärker ausgeprägt sind als bei den meisten Sehenden? Kann das in gewissen Situationen von Vorteil sein?

Rein rechnerisch bin ich im Besitz von 80 % der klassischen Sinne beziehungsweise der Wahrnehmung. Mein Gehirn weiss nicht, dass ich nicht sehen kann. Ich „sehe“ also mit meinen übrigen Sinnen umso intensiver. Im Kopf habe ich Bilder meiner Umgebung, eine 3D-Visualisierung, die durch spezifische Informationen in Form von Reizen aus der Umwelt entsteht. Zu den klassischen vier Sinnen wie Hörsinn, Geruchssinn, Geschmackssinn und Tastsinn kommen noch mein Gleichgewichtssinn, der Temperatursinn und mein Körperempfinden hinzu. Diese Sinne ermöglichen mir einen Gesamteindruck zu bilden, durch den ich quasi „sehen“ kann. Wer bei uns im Team der Blinde ist, ist für einen Aussenstehenden oft gar nicht erkennbar.
Wenn ich den Gipfel erreiche, habe ich das Gefühl, gewonnen zu haben. Es ist eine Rückmeldung, dass mein Denken der Realität entspricht. Wenn ich einen Fehler mache, dann komme ich den Berg nicht hoch.
– Andy Holzer

In geschlossenen Räumen sind die Sinneseindrücke weniger ausgeprägt als in der freien Natur. Fühlen Sie sich in Räumen weniger sicher als draussen?

Ja, das ist tatsächlich so. Ich bin im Freien, in den Bergen aufgewachsen und nehme die Natur durch Gerüche, Geräusche, Temperaturschwankungen, Winde oder topografische Unterschiede klar und deutlich war. Seit meiner Kindheit konnte ich Erfahrungen im Freien sammeln, die mir eine hohe Sicherheit geben, mich draussen frei zu bewegen. Die Natur verläuft nach einer inneren Logik. In der sogenannten Zivilisation, in einer vom Menschen geschaffenen Welt, fällt es mir viel schwerer, mich zu orientieren. Die gebaute Welt ist unberechenbar, ihr fehlt oftmals diese gewachsene Logik der Natur. Blindenleitsysteme empfinde ich meist als störend. 
Rein rechnerisch bin ich im Besitz von 80 % der klassischen Sinne beziehungsweise der Wahrnehmung. Mein Gehirn weiss nicht, dass ich nicht sehen kann. Ich „sehe“ also mit meinen übrigen Sinnen umso intensiver. Im Kopf habe ich Bilder meiner Umgebung, eine 3D-Visualisierung, die durch spezifische Informationen in Form von Reizen aus der Umwelt entsteht.
– Andy Holzer

Wie sichern Sie sich mental ab, wenn Sie Unbehagen oder Unsicherheit vor einem Auf- oder Abstieg verspüren? Welche Aspekte entscheiden, ob Sie weitergehen oder umkehren?

Wenn wir auf einer Tour sind und ich mich in einer Situation unbehaglich und unwohl fühle, artikuliere ich dies ans Team. Ich beziehe die Sehenden mit ein und wir loten das Problem gemeinsam aus. Es gab Situationen, da merkten meine Begleiter anhand meiner zögernden oder unsicheren Bewegungen, dass ich etwas Ungewöhnliches spürte. Oder es gab Momente, da habe ich das Team im Voraus gewarnt, weil ich ein nahendes Problem früher erkannt hatte.

In Ihrem Buch „Mein Everest. Blind nach ganz oben“ schreiben Sie: „Stell dir vor, dich wirft jemand aus einem Verkehrsflugzeug in knapp 9000 Metern Flughöhe. Es herrschen bis zu 40 Grad minus, dir bläst ein eisiger Wind um die Ohren, vom Sauerstoffgehalt der Atemluft steht dir nur noch ein Drittel zur Verfügung: Das kannst du eigentlich nicht überleben. Und jetzt schnall dir einen Rucksack auf den Rücken und bringe die grösste körperliche und mentale Leistung deines Lebens ...“. Weshalb nehmen Sie solche Strapazen und Gefahren auf sich?

Andere Leute glauben an das Leben nach dem Tod. Ich bin grundsätzlich ein sehr gläubiger Mensch und ahne eine göttliche Grösse über uns, aber in meinem Realleben glaube ich erstmal an das Leben vor dem Tod, welches zu erleben, zu geniessen und zu bewältigen ist. 24 Stunden und 365 Tage in gemütlicher Sicherheit zu leben, stumpft ab und führt zu Lethargie. Ich bin ein neugieriger Mensch, will Neues entdecken, neue Herausforderungen bewältigen und mich weiterentwickeln. Dazu muss ich jedoch die sicheren vier Wände und meine Komfortzone verlassen. 

Wenn Sie auf einem Gipfel stehen, was „sehen“ Sie da, was empfinden Sie?

Mein Gehirn generiert auch ohne Augen Bilder. Wenn ich oben angekommen bin, erhalte ich ein wahres Feedback, dass ich die richtigen Entscheidungen getroffen habe, dass ich das richtige Material gewählt habe, den richtigen Seilpartner hatte. Wenn ich den Gipfel erreiche, habe ich das Gefühl, gewonnen zu haben. Es ist eine Rückmeldung, dass mein Denken der Realität entspricht. Wenn ich einen Fehler mache, dann komme ich den Berg nicht hoch.

Sicherheit bedeutet das Geschütztsein vor Gefahr oder Schaden. Was macht Ihnen Angst, wovor fürchten Sie sich?

Angst oder Unsicherheit spüre ich jeden Tag. Angst zeigt sich vielfältig und kann auch nicht bekämpft werden. Angst ist eine Hormonausschüttung, ein Warnsignal, das uns unvermittelt mitteilt, dass etwas nicht stimmt. Sie warnt und schützt uns vor Gefahren. Wie Hunger oder Durst ist Angst ein Teil unseres Unterbewussten und unverzichtbar. Sich mit unterdrückter Angst in vollkommener Sicherheit zu glauben, ist gefährlich.
iNFO
Andreas „Andy“ Josef Holzer (*1966) wurde in Lienz in Osttirol geboren. Er ist Bergsteiger, Extremsportler und Vortragsreisender. Aufgrund der Netzhauterkrankung Retinitis Pigmentosa ist er von Geburt an blind. Im Jahr 1994 führte Holzer die ersten namhaften Klettereien durch. Unterdessen hat er sechs der „seven summits“, der höchsten Berge eines jeden Kontinents, bestiegen – Kilimandscharo (Afrika), Elbrus (Europa), Aconcagua (Südamerika), Mount Mc. Kinley (Nordamerika), Carstensz Pyramide (Ozeanien) und den Mount Vinson (Antarktis). Am 21. Mai 2017 stand Holzer mit seinen Partnern Wolfgang Klocker und Klemens Bichler auf dem Gipfel des Mount Everest. Andy Holzer ist der erste Blinde, der über die Malloryroute an der Nordseite den Gipfel des höchsten Bergs der Welt erreicht hat. In Vorträgen versucht Holzer, den Menschen etwas weiterzugeben von seinen gelebten Visionen und Grenzerfahrungen, die er als „blind climber“ in den Bergen dieser Welt machen durfte.

Buchtipps:
Andy Holzer: Balanceakt. Blind auf die Gipfel der Welt.
Walter-Verlag, Mannheim 2010, ISBN 978-3-530-50613-6.

Andy Holzer: Mein Everest. Blind nach ganz oben.
Patmos Verlag, Mannheim 2018, ISBN 978-3-8436-1093-3.
www.andyholzer.com

Foto Copyright: Wolfgang Klocker, Amlach